NATURA 2000
Sehr geehrte Damen
und Herren,
mit dieser
Sonderausgabe zu NATURA 2000 möchten wir Sie über die Rechtsentwicklung auf dem
laufenden halten:
Die
Auswahlverfahren der dritten, vierten und fünften Tranche in Schleswig-Holstein
sind abgeschlossen. Es darf vermutet werden, daß die Meldungen über das BMU
unterwegs zur Europäischen Kommission sind.
Dieser Stand des
Verfahrens wirft erneut die Frage nach Rechtsschutzmöglichkeiten auf. In den
Mittelpunkt des Interesses rückt eine bisher nicht ausreichend gewürdigte
Vorschrift: § 20 d) Abs. 4 Satz 3 LNatSchG.
Die Vorschrift
dehnt das gesetzliche Beeinträchtigungsverbot aus. Setzte es bisher die
Bekanntmachung von FFH- und Vogelschutzgebieten im Bundesanzeiger voraus, so
gilt das Verbot nun "entsprechend für der Europäischen Kommission gemeldete,
aber noch nicht nach den Absätzen 1 bis 3 geschützte Gebiete".
Ab dem Zeitpunkt
der Meldung gilt damit ein Verbot für Veränderungen in FFH- oder
Vogelschutzgebietsvorschlägen, die zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebiets
in seinen für die Erhaltungsziele maßgeblichen Bestandteilen führen können.
Dies wiederum
bedeutet, daß nach Meldung Rechtsschutz kein vorbeugender ist. Rechtsbehelfe
reagieren dann auf eine Rechtsbeeinträchtigung, nämlich das Greifen des
gesetzlichen Verbots.
Fraglich bleibt,
wann ein Gebiet dem Gesetzeswortlaut nach "gemeldet" ist. Das Wort von der
"Meldung" wird nämlich von den übrigen einschlägigen Rechtsgrundlagen nicht
verwendet.
Wie dem auch sei.
Schon die laufenden Klagen werden möglicherweise eine gerichtliche Auslegung der
schwer verständlichen Vorschrift hervorbringen. Betroffenen in
Schleswig-Holstein jedenfalls kann nur gesagt werden, daß die Vorschrift die
Richtigkeit der bisherigen Rechtsprechung zur Zulässigkeit des Rechtsschutzes in
Frage stellt.
Darüber hinaus sei
auf folgendes hingewiesen:
-
Gravierender
Strukturfehler der FFH-Gebietsauswahl
Die
Bundesratsdrucksache 161/04 vom 20.02.2004 dokumentiert einen Fehler der
FFH-Gebietsauswahl, der noch erhebliche Bedeutung erlangen wird. In dieser
Drucksache ist das Schreiben der Europäischen Kommission vom 20.11.2003 an das
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wiedergegeben,
mit dem die Kommission um die Herstellung des Einvernehmens zum Entwurf der
Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung nach Art. 4 Abs. 2 FFH-RL
bittet. Dieses Schreiben enthält eine Anlage, in der vier Gebiete aufgeführt
sind, die nach Ansicht der Europäischen Kommission nicht in die Liste
mit Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung aufgenommen wurden, weil deren
gemeinschaftliche Bedeutung nicht gesichert sei.
Drei dieser
Gebiete kommen aus Schleswig-Holstein (!). Es handelt sich um
Naturschutzgebiete, die bereits im Rahmen der ersten Tranche an die
Europäische Kommission gemeldet wurden (NSG Rickelsbüller Koog, NSG Wöhrdener
Loch/Speicherkoog Dithmarschen, NSG Kronenloch/Speicherkoog Dithmarschen). In
der Kommentierung der Europäischen Kommission zu diesen drei Gebieten heißt
es, daß im Standarddatenbogen keine Lebensraumtypen nach Anhang I und keine
Arten nach Anhang II FFH-RL angegeben sind.
Nun besteht
Einigkeit, daß diese drei Naturschutzgebiete zu den "Kronjuwelen" des
Naturschutzes in Schleswig-Holstein gehören. Selbstverständlich kommen in
ihnen zahlreiche Lebensraumtypen und Arten sowohl nach der FFH- als auch
Vogelschutzrichtlinie vor. Sie sind eben nur im Standarddatenbogen nicht
angegeben worden.
Es heißt im
Anschreiben des Bundesumweltministeriums an den Bundesratspräsidenten, daß die
Zurückweisung dieser Gebiete auf Formfehlern beruhten, die derzeit (Februar
2004) gegenüber der Kommission ausgeräumt würden.
Der Vorgang ist
symptomatisch für einen Fehler, der sich durch die gesamte Auswahl
hindurchzieht und den unser Arbeitskreis seit jeher gerügt hat: Die
Standarddatenbögen der Gebiete zur ersten und zweiten Tranche sind nur
liederlich ausgefüllt worden. Folge ist, daß die Europäische Kommission nicht
in vollem Umfang über das informiert wurde, was in Schleswig-Holstein schon
geschützt ist. Folge davon wiederum ist, daß die Europäische Kommission, aus
ihrer Sicht aufgrund mangelnder Information möglicherweise zu Recht,
Schutzdefizite für Schleswig-Holstein festgestellt hat.
Wären die
Standarddatenbögen zur ersten und zweiten Tranche vollständig ausgefüllt
worden, hätte sich ein Schutzdefizit nicht in dem von der Landesregierung
unter Berufung auf die Europäische Kommission behaupteten Ausmaß ergeben.
-
Entscheidung
des Bundesverwaltungsgerichts zum Hochmoselübergang
In einem
aktuellen Urteil zur Vogelschutzrichtlinie hat das Bundesverwaltungsgericht
bedeutende Ausführungen zum faktischen Vogelschutzregime gemacht. Das Urteil
ist am 01.04.2004 verkündet worden (AZ: 4 C 2.03).
Das Urteil
bestätigt einen Baustopp für die Bundesstraße 50 zwischen der Bundesautobahn A
1 bei Wittlich und der B 327 bei Büchenbeuren. Dieser Neubau ist Teil einer
großräumigen West-Ost-Straßenverbindung zwischen Belgien und dem
Rhein-Main-Gebiet (Hochmoselübergang). Das Bundesverwaltungsgericht gibt einem
anerkannten Naturschutzverein Recht, der den Planfeststellungsbechluß beklagt
hatte. Der angefochtene Planfeststellungsbeschluß sei mit der
Vogelschutzrichtlinie nicht vereinbar und deshalb rechtswidrig und dürfe bis
zur Fehlerbehebung in einem ergänzenden Verfahren nicht vollzogen werden:
Nach Ansicht des
Bundesverwaltungsgerichtes ist die Auffassung, daß der Wald am Rothenberg
Bestandteil eines faktischen Europäischen Vogelschutzgebietes sei,
revisionsgerichtlich hinzunehmen. Eine derartige Auffassung sei das Ergebnis
tatsächlicher Feststellungen, an die das Revisionsgericht gebunden sei.
Anmerkung: Das
Bundesverwaltungsgericht bestätigt damit die außerordentliche Bedeutung von
Tatsachenfeststellungen, d.h. des Inhaltes des Standarddatenbogens bzw. von
alternativen Fachbeurteilungen.
Das
Bundesverwaltungsgericht erkennt ferner keine Anhaltspunkte dafür, daß der
Wald "nur" als Pufferzone oder Abrundungsfläche in das Schutzgebiet einbezogen
wurde, ohne selbst die erforderliche ornithologische Wertigkeit zu besitzen.
Anmerkung: Das
Bundesverwaltungsgericht öffnet damit eine Türe; wenn Flächen nur als
Pufferzone oder Abrundungsfläche einbezogen wurden, gilt auf ihnen das strenge
Schutzregime nicht. Wiederum ein Beleg dafür, wie wichtig die objektive
Feststellung der "Wertigkeit" einer Fläche zum Zeitpunkt der
Gebietsidentifizierung ist.
Das
Bundesverwaltungsgericht bestätigt ferner, daß die Schutzerklärung den
Zeitpunkt bestimmt, in der das Schutzregime eines faktischen
Vogelschutzgebietes nach Art. 4 Abs. 4 VSRL durch das Schutzregime nach Art.
6/7 FFH-RL ersetzt wird.
Anmerkung: Diese
Feststellung ist nichts Neues.
Im entschiedenen
Fall hatte die Landesregierung die Identifizierung des Waldes am Rothenberg
als Vogelschutzgebiet im Ministerialblatt bekanntgegeben (ein Vorgehen, wie es
beispielsweise das Land Niedersachsen ähnlich gewählt hat) und sogar eine
Verordnung zur einstweiligen Sicherstellung erlassen. Das
Bundesverwaltungsgericht stellt fest, daß diese beiden Rechtsakte nicht
zu einem Regimewechsel führen. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt folgende
Voraussetzungen für den Regimewechsel:
-
Es muß ein
"förmlicher Akt" vorliegen.
-
Der
Mitgliedstaat müsse die besonderen Schutzgebiete "vollständig und endgültig"
ausgewiesen haben.
-
Die Erklärung
müsse das Gebiet Dritten gegenüber rechtswirksam abgrenzen und nach
nationalem Recht "automatisch und unmittelbar" die Anwendung einer mit dem
Gemeinschaftsrecht in Einklang stehenden Schutz- und Erhaltungsregelung nach
sich ziehen,
kurz: Den
Regimewechsel könne nur eine "endgültige rechtsverbindliche Entscheidung mit
Außenwirkung" herbeiführen. Außerdem müsse die Schutzerklärung hinreichend
bestimmt Schutzgegenstand, Schutzzweck, die zur Erreichung des Schutzzwecks
notwendigen Gebote und Verbote und, soweit erforderlich, die Pflege-,
Entwicklungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen aufführen.
Anmerkung: Das
Bundesverwaltungsgericht läßt damit als Schutzerklärung nur einen
Verwaltungsakt (Allgemeinverfügung) oder eine Verordnung genügen. Ob die
Schutzerklärung europäischem Recht entspricht, unterliegt voller Überprüfung
durch die Rechtsprechung. Wichtig: Das Bundesverwaltungsgericht läßt
ausdrücklich offen, welche rechtliche Bedeutung die Bekanntgabe der
Vogelschutzgebiete im Bundesanzeiger (dazu unsere Rundschreiben 11/2003,
Anlage 1, und 1/2004) hat.
Der
einstweiligen Sicherstellung fehle jedenfalls die inhaltliche Qualität sowie
die Dauerhaftigkeit und Festigkeit, die für die rechtswirksame Erfüllung der
Ausweisungspflichten zu fordern sei. Die Frage, welchen naturschutzrechtlichen
Anforderungen eine Gebietserklärung hinsichtlich der Erhaltungsziele und der
Schutzmaßnahmen im einzelnen genügen müsse, damit ein Regimewechsel eintreten
könne, sei - soweit sie überhaupt einer über den Einzelfall hinausreichenden
Klärung zugänglich ist - im Urteil nicht abschließend zu klären.
Anmerkung: Aus
der Entscheidung sind Anhaltspunkte leider nicht erkennbar, ob die derzeitige
Praxis des Landes Schleswig-Holstein korrekt ist, europäische
Vogelschutzgebiete durch Landesverordnung ohne Differenzierung der
Erhaltungsziele und der Schutzmaßnahmen auszuweisen.
Die Trasse der
Autobahn führe zu nicht nur geringfügigen negativen Auswirkungen auf die zu
schützenden Spechtarten. Flächenverbrauch und die Immissionen nach
Betriebsaufnahme führten im Ergebnis zu einer flächenhaften Teilentwertung und
Verkleinerung des Schutzgebiets (Zerschneidungsschäden).
Anmerkung: Das
Bundesverwaltungsgericht folgt damit inhaltlich weitgehend den
Auslegungshinweisen der Europäischen Kommission zum Begriff der "erheblichen
Beeinträchtigung" im FFH-Schutzregime.
Das Urteil kann
auch elektronisch von der Geschäftsstelle übermittelt werden.
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Abschwächung
der Rechtsprechung zu den potentiellen FFH- und faktischen Vogelschutzgebieten
Das
Bundesverwaltungsgericht hat die Reichweite seiner Rechtsprechung zu den
faktischen Vogelschutzgebieten erheblich zurückgenommen. In seinem Urteil vom
22.01.2004 zur Planfeststellung der Autobahn 38 im Bereich der Leineniederung
stellt das Gericht fest:
"Die Annahme,
daß ein bestimmter Landschaftsraum ein faktisches Vogelschutzgebiet oder ein
potentielles FFH-Gebiet ist, braucht sich in der Regel dann nicht
aufzudrängen, wenn weder das aktuelle IBA-Verzeichnis noch Äußerungen der
EU-Kommission Anhaltspunkte dafür bieten, daß die in der
Vogelschutzrichtlinie bzw. der FFH-Richtlinie aufgeführten Eignungsmerkmale
erfüllt sind".
Das Urteil ist
eine klare Absage an die Schattenliste der Naturschutzverbände. Außerdem
betont das Bundesverwaltungsgericht in der Entscheidung nochmals den
Beurteilungsspielraum der Bundesländer für die Auswahl von Lebensraumtypen.
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Listungsverfahren für die Gebiete der ersten und zweiten Tranche in der Phase
der Einvernehmensherstellung
Vor der
endgültigen Listung durch die Europäische Kommission sieht die FFH-Richtlinie
die Herstellung des Einvernehmens mit den Mitgliedstaaten zu einem Entwurf der
Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung vor. Diese Phase ist
eröffnet. Die Europäische Kommission hat den Listungsentwurf an das BMU
übermittelt. Der Listungsentwurf ist auf dem Stande der Meldungen der ersten
und zweiten Tranche. Interessanterweise enthält das Übermittlungsschreiben
keinerlei Hinweis auf bestehenden Zeitdruck zur Ergänzung um die Gebiete der
Tranchen 3 bis 5.
Das
Umweltministerium hat zur Länderbeteiligung den Listungsentwurf an den
Bundesrat übersandt. Die Beteiligung der Länder über den Bundesrat ist in
einem Gesetz vorgesehen, das die Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der
Europäischen Union regelt.
Durch die
Beteiligung nur des Bundesrates und nicht der einzelnen Länder wird die
Möglichkeit der Widersprüche einzelner Länder zu einzelnen Gebieten
zuverlässig auf Null reduziert.
Gelegentlich ist
in der Literatur erörtert worden, ob nicht eine Klage gegen den Bund erhoben
werden könne, mit dem Ziel, den Bund gerichtlich zu verpflichten, das
Einvernehmen zu einzelnen Gebieten gegenüber der Europäischen Kommission zu
versagen. Darauf wird hingewiesen.
Zwischenzeitlich
hat der Bundesrat sein Einvernehmen erteilt.
-
Reaktion auf
die Stellungnahme des Arbeitskreises
Das MUNL hat mit
einer ausführlichen Erwiderung auf die Stellungnahme unseres Arbeitskreises
zur FFH-Gebietsauswahl 3. Tranche reagiert. Die Reaktion auf die Stellungnahme
zur 5. Tranche fiel knapper aus.
Beide
Erwiderungen können von der Geschäftsstelle abgefordert werden. Sie überzeugen
nicht.
Das
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat
ausführlich auf eine vom Arbeitskreis abgegebene Stellungnahme zu den NATURA
2000 - Gebietsvorschlägen des Bundes in der deutschen Ausschließlichen
Wirtschaftszone reagiert. Das sechsseitige Schreiben kann bei der
Geschäftsstelle abgefordert werden. Es outet die angreifbaren rechtlichen
Argumente des BMU.
Bei der
Ausschließlichen Wirtschaftszone handelt es sich um Flächen seewärts der 12
Seemeilen - Grenze.
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Vorteile für
landwirtschaftliche Betriebe in NATURA 2000 - Gebieten ?
Immer wieder
wird behauptet, landwirtschaftliche Betriebe, deren Flächen in NATURA 2000 -
Gebieten liegen, hätten von dieser Einbeziehung Vorteile. Das Innenministerium
des Landes Schleswig-Holstein hat im Rahmen eines Lageberichtes 2003 nun Daten
über die aus dem Programm Zukunft auf dem Land (ZAL) in Anspruch genommenen
Gelder veröffentlicht.
Förderung nach
Art. 13 bis 21 (benachteiligte Gebiete) erhielten 12 Betriebe mit einer Fläche
von insgesamt rund 1.000 ha. Die durchschnittliche Ausgleichzahlung betrug je
Betrieb 1.750,00 € und je Hektar 42,00 €.
Zahlungen gemäß
Art. 16 (Gebiete mit umweltspezifischen Einschränkungen) erhielten 275
Betriebe mit einer Fläche von insgesamt rund 3.000,00 ha. Je Betrieb wurden im
Durchschnitt 724,00 € und je Hektar 66,00 € Ausgleichszahlungen gewährt.
Diese Zahlen
relativieren das häufig vorgebrachte Argument.
-
Erkenntnis
besser spät als nie
In den
Nationalparknachrichten 5-6/2004, dem Informationsblatt aus dem
Nationalparkamt Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, heißt es, daß sich die
stachelige Ackerkratz-Distel in den Salzwiesen zu breit macht.
Handlungsbedarf sei angesagt. Es bleibe nur die Möglichkeit, die Disteln durch
Mahd und/oder den Einsatz von "Wuchsstoffmitteln" kurzzuhalten.
Eine
durchgehende Beweidung hätte den Disteln auf natürlichem Wege vorgebeugt.
Was gab es über
die Frage für Diskussionen ! Wie oft schlug der Westküste in dieser Frage
"wissenschaftlicher" Hochmut aus dem Nationalparkamt entgegen !
Aber der Blick
geht nach vorn: Endlich, endlich Erkenntnis, die vielleicht zur Annäherung der
Positionen führen kann.
Mit freundlichen
Grüßen
gez. Dr. Giesen |